Zweieinhalb Dimensionalität 2&1/2D (German)

Twoandahalf Dimensionality / Zweieinhalbdimensionalität
Marjan Colletti, 2006.
Published in:

Colletti, Marjan. 2&1/2D Twoandahalf Dimensionality / Zweieinhalbdimensionalität, Bucher Hohenems, Austria, 2006.

Bucher Hohenems, www.quintessence.at
6/2007 | 1. Aufl.
Mappenwerk im Schuber
33 x 33 cm | 24 prints
ISBN 978-3-902525-48-2
EUR 35,00 | CHF 56,00
With an intro ' Die Zeichnung ist tot – es lebe die Zeichnung!' (in German) by Hannes Stiefel.


Digital Seeds - Graphical Plantations
 
'That the world of digital procedure can breed something immense;y unpredictable was always known but too rarely experienced. Now Marjan is creating whole forests and plantations of swirling, knotting, budding, challenging lines that are hairy, flowery, mysterious and almost certainly consequential.'
Sir Peter Cook

Die Zeichnung ist tot – es lebe die Zeichnung! 
"Neugierde in Verbindung mit absichtsloser Leidenschaft lässt Dinge entstehen, die sich einer konventionellen Beschreibung entziehen. Vergebens wird man in manchen dieser Blätter Bezugssysteme oder verbindliche Hinweise auf Maßstäbe suchen, die einem vertraut erscheinen. Seltsam entrückt die fabelhaften Welten, wo sich die Frage nach dem Inhalt nicht mehr stellt … Colletti zeichnet an gegen den Verlust einer Ausdrucksform, die über lange Zeit den Freiheitsgrad der Architektur erhöhte. Seine persönlichen Absichten mögen vielleicht andere sein, doch die Zeichnung verwischt die Intentionen und macht dem Subjektiven, dem Überraschenden und dem Geheimnis Platz – ein Sakrileg im gegenwärtigen Architekturdiskurs!"
Hannes Stiefel

Scheinbar agiert CAAD (computer-aided architectural design) innerhalb einer von Parametern der Technik überwältigten Domäne, wobei der deutsche Begriff „Technik“ die drei Unterbegriffe Technologie (technology), Technik (technics), und technisches Verfahren (techniques) vereint und vermittelt. Gerade weil CAAD Verfahren als weniger technisch und abstrakter als CAD/CAM Technologien mißverstanden werden - da sie grundsätzlich nicht auf Produktion, sondern auf Reproduktion ausgerichtet sind - habe ich mich gegen das monopolistische Auftauchen reiner parametrischer Entwurfsprozesse dem Ausdruck poetischer digitaler CAAD Eigenschaften verpflichtet.

Verwurzelt in Heideggers Verflechtung von Handwerk (technē) und Kunst (poiēsis), entbirgt CAAD „Metareproduktionskräfte“: ein sekundäres Schaffen, das etwas produziert, was wiederum etwas re-produziert. Dieses erste Etwas schwankt in einem digitalen Limbo (ich habe es anderswo als „Intraface“ beschrieben – ein homologer Rahmen (framework) eingebettet innerhalb eines kontrollierten Rückkopplungssystems) von Konstrukten, die irgendwo zwischen Bildern und Dingen exisitieren. Diese dazwischenliegenden vermittelnden Konstrukte weisen zweineinhalbdimensionale (2&1/2D) qualitative Eigenschaften (anstatt quantitativer Parameter) auf und vermitteln authentische Digitalität mit projektiver Reproduktion. Das zweite Etwas ist von sich aus dargestellt, und wird anhand digitaler Mimesis (oder Ähnlichkeit) wirksam ausgeübt. Im Gegensatz zu Simulation bezweckt Ähnlichkeit weder Vortäuschung noch Darstellung sondern Äußerung und Reproduktion. Vielmehr bedingt digitale Nachahmung, die auf Produktion ausgerichtet ist, Platonische Mimesis als Imitation (imitatio) – die Konstruktion einer Aktion; auf Metaproduktion von digitalen Dingen bezogen, umfaßt sie das Konzept Aristotelischer Mimesis als natura naturans (die generative Natur der Natur), sowie auch Heideggers Mimesis als poiesis (das Entbergen), die Produktion von Expression; auf Reproduktion zielend, betrachtet sie Walter Benjamins Mimesis im Sinne von unsinnlicher Ähnlichkeit (wie in Sprache und Text existierend, und nicht von vorn herein dekodiert und konform).

In seiner undekodierten, antikonformistischen 2&1/2Dimensionalität, agiert CAAD demiurgisch (es erfindet und schöpft nicht Dinge, sondern Welten von Bildern und Phenomänen) und ist auf –wie ich es bezeichne „digitale Meta-Reproduktion“ ausgerichtet, denn es ermöglicht ein Sich-Lösen von Tradition, wie von Benjamin erläutert; ein Sich-Lösen vom Ritualkonzept von Authentizität. Die Authentizität dieser Zeichnungen liegt in deren Fiktion (einer Theater- oder Filmbühne ganz ähnlich, wo sich die Schauspieler in einem pirandellianischem Exil und Unbehagen befinden). Alle Zeichnungen sind an sich Metareproduktionen: Ausdruck und Vermittlung eines nicht-reproduzierbaren Originals, welches sich in seiner Digitalität abseits von der Technikdomäne befindet.

Diese 24 Zeichnungen veranschaulichen die 2&1/2Dimensionalen Eigenschaften einer dazwischenstehenden, schwebenden digitalen Welt, welche nur erläuternd und poetisch beschrieben werden kann. Alle Zeichnungen sind von persönlichen Gedanken in der kürzesten Poesieform, dem Japanischen Haiku begleitet, welches aus einem auf 5-7-5 Silben beschreibenden Dreizeiler besteht. Sie sind persönliche Anfangsstudien für marcosandmarjan Projekte, welche einige dieser digitalen Eigenschaften in programmbestimmte architektonische Entwürfe umzusetzen versuchen. Alle 24 Zeichnungen:

  • sind völlig von Vektoren anstatt Pixeln definiert;
  • wurden in einem zweidimensionalen Raum konstruiert und erfuhren nie eine dreidimensionale Manipulation;
  • sind komplett flach und weisen keine z-Achse Koordinate auf;
  • sind geometrisch präzise, aber vollkommen abstrakt;
  • sind unbegrenzt aber nicht endlos;
  • sind nicht gerenderte zweidimensionale grafische Projektionen dreidimensionaler geometrischer Gebilde, sondern Produktionen und Reproduktionen digitaler Eigenschaften;
  • fokusieren auf die Realität von Virtualität, eher als auf die Virtualität von Realität;
  • beabsichtigen das Virtuelle und das Digitale eher als das Aktuale; das Poetische und Intuitive eher als das Technologische; das Künstlerische und Glückselige eher als das Mathematische; das Dazwischenliegende und Vermittelnde eher als das Medium, und die Geste und die Wahrnehmung eher als das Figurative;
  • repräsentieren linien- und spliniendefinierte Blots, welche im Vergleich zu NURBS- und oberflächendefinierten Blobs reflektive und projektive Interpretationen ermöglichen;
  • ergeben sich aus intuitiver und spielerischer Interaktion mit Software und Programmen, anstelle parametrischer und algorithmischer Entwurfsprozesse;
  • stellen weder Struktur, noch Materialität dar; weder Oberflächen, noch Volumen, sondern reine digitale Materie;
  • sind intrinsisch digital, da sie identisch reproduziert, aber nicht produziert werden können;
  • zeigen das splineare strukturelle Gewebe von Intrafaces anstelle der bilderischen grafischen Gestaltung von Interfaces auf;
  • beschreiben konvolute ornamentierte Felder anstatt geometrisch geschlossener Gebilde;
  • sind Produkt digitaler Demiurgie, die eher symbolische Wonne (bliss) als metaphorischen Trübsinn (gloom) erlaubt,
  • verschmelzen Signal (signifier), Bedeutung (signified) und Objekt (referent);
  • befürworten eine mögliche Architektur, die abseits der üblich auftretenden algorithmischen, mathematischen, entwurfsprozessualen Neo-Sachlichkeit liegt.
Denn Normalbetrieb ist Notzustand: „Business as usual is a state of emergency’ (Esther Leslie). 

 
[Images: Marjan Colletti]